Normalerweise wäre jetzt Berlinale. Normalerweise würde mein Mann Tag und Nacht mit der Kamera auf dem Roten Teppich stehen, bei Fotocalls und Empfängen Stars aus aller Welt fotografieren. Wie hat er diesen Job geliebt, die besondere Atmosphäre des internationalen Filmfestivals, die vielen Fans und Journalisten am Potsdamer Platz. Die Berlinale war der Höhepunkt seines Fotografenjahrs – wenn es denn so etwas gibt. Ich war stolz auf meinen Mann und freute mich über die Mitarbeiter-Karten, mit denen ich Berlinale-Filme sehen konnte, ganz ohne mich in die berüchtigte Schlange vor dem Ticketcounter zu stellen.
Seine letzte Berlinale war die von 2017. Im Grunde konnte er damals seinen Arbeitsvertrag gar nicht mehr erfüllen, die Demenz war zu weit fortgeschritten. Er wollte trotzdem auf den Roten Teppich. Zugeben, dass er dem Stress nicht mehr gewachsen war, nein, dass konnte er nicht. Seine Kollegen, die ihn seit Jahren kannten und schätzten, haben ihn die kompletten zehn Tage gedeckt. Seine Fotos beschriftet, weil er kaum noch schreiben konnte. Termine für ihn übernommen, weil er das Pensum nicht mehr schaffte. Das habe ich erst viel später erfahren. Mir gegenüber tat mein Mann so, als ob alles prima liefe. Und ich wunderte mich, wie gut er das noch schaffte trotz der Diagnose. Also alles halb so schlimm mit der Demenz, dachte ich. Puh, Glück gehabt. Wie naiv! Es kam natürlich viel schlimmer.
Mein Mann war ein guter Lügner, schon immer. Eine Lüge kam ihm meist viel leichter von den Lippen als die schlichte Wahrheit. Das habe ich gehasst und nie geahnt, dass es bald das kleinere Übel sein würde. Denn heute kann er nicht einmal mehr das: lügen. Im Grunde weiß ich inzwischen gar nicht mehr, was er überhaupt noch kann. Seit Beginn des Lockdowns im November konnte ich ihn nicht mehr besuchen. Telefonieren ist sinnlos, denn sprechen geht nicht mehr. Ob er überhaupt mitbekommen hat, dass seine geliebte Berlinale in diesem Jahr ausfällt? Vermutlich nicht.
Ich denke gerne zurück an das, was normalerweise jetzt gewesen wäre. Und doch schon längst nicht mehr normal war.