Fast genau drei Jahre nachdem er zurück in seine Heimatstadt gezogen ist, ist er wieder umgezogen. Diesmal nicht freiwillig. Er lebt jetzt in einer Pflegewohngemeinschaft im Nachbarort. Das ist genau das, was er nie gewollt hat. Und entsprechend verhält er sich auch. Er kommt nicht damit klar, fremdbestimmt zu sein, ist renitent, will sich nicht einfügen. Seine Mitpatienten beschweren sich über sein Verhalten. So massiv sind seine Ausfälle, dass die Heimleitung bereits nach einer anderen Lösung für ihn sucht. Leider kann die nur heißen: Gerontopsychiatrie, geschlossenes Heim. Das Endlager für Menschen mit Frontotemporaler Demenz.
Erfahren habe ich das in einem kurzen Brief von seiner Schwester, die seine rechtliche Betreuerin ist. Ich hatte mich zuletzt gewundert, dass ich ihn am Telefon nicht mehr erreichen konnte und hatte vermutet, dass er seinen Anschluss beschädigt hat, wie schon vorher andere Geräte und Dinge in seiner Wohnung. Doch der Anschluss war abgemeldet. Sein Pflegedienst verweigerte mir die Auskunft, wo er ist und wie es ihm geht. Nun weiß ich es. Und wage nicht, es meiner Jüngsten zu sagen. Wir werden ihn in einem Heim besuchen müssen – sofern man uns reinlässt. Bei den derzeitigen Corona-Zahlen sicher nicht. Jedenfalls nicht zu zweit.
Das Heim hatte ich ihm damals möglichst lange ersparen wollen. Darum sind wir beide das nicht unerhebliche Risiko eingegangen, ihn in eine eigene Wohnung ziehen zu lassen. Damals konnte er noch selbst entscheiden. Damals hatte ich gedacht: So hat er noch einmal einen schönen Sommer in seiner Heimatstadt an der Küste. Ich war fest davon überzeugt, dass das Alleinleben nur wenige Monaten funktionieren würde. Doch in der Anfangszeit blühte er regelrecht auf. Aus dem Sommer wurden fast drei Jahre, die er in der Wohnung lebte. Zum Schluss klappte es leider gar nicht mehr gut. Die Wohnung war verdreckt. Er hatte verlernt Wäsche zu waschen, Müll rauszutragen. Und er wurde inkontinent. Trotz allem war es nicht möglich, ihn zu überreden, mehr Pflege in Anspruch zu nehmen. Nur gegen das Essen auf Rädern hatte er nichts einzuwenden.
Ich bin sehr froh, dass er diese letzte Zeit der Selbstbestimmtheit, der Eigenständigkeit haben durfte. Mein Mann war immer ein Freigeist. Nie hat er sich von irgendetwas oder irgendjemandem abhängig machen wollen. Er wollte frei sein. Er war selbstständiger Fotograf und hatte (so gut wie) keine Versicherungen, nicht mal eine Haftpflicht.
Es tut mir weh, dass er jetzt so leiden muss, weil er spürt, dass er nicht mehr frei sein kann und darf. Jetzt bestimmen andere über ihn. Zu seinem Besten und zum Besten der anderen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das lange aushalten wird. Und ich wünsche ihm das auch nicht. Das letzte Stück des Weges wird entwürdigend werden und alles andere als frei. Ich hoffe sehr, dass es ein kurzes Stück Weg wird.
Mein Trauriger, schlaf ein. Diese Zeile aus dem jiddischen Tango-Vals „Di goldene Pave“ (Der goldene Pfau) will nicht mehr aus meinem Kopf.
Traurig, aber er hatte noch drei Jahre in Freiheit. Und Ihr konntet ihn besuchen, und das war es wert. Übrigens, die Gerontopsychiatrie, das geschlossenes Heim muss nicht die finale Station von Menschen mit Frontotemporaler Demenz sein. Ich kenne mehr Fälle, in denen es anders ging, entweder zu Hause, im Pflegeheim, normale Abteilung, oder im speziellen Heim für Demenzkranke. Je nachdem kann das auch sehr lange dauern, leider. Man wünschte es sich, dass sie einfach einschlafen könnten…
Herzliche Grüsse
Claudia M
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