Ruhend gestellt

Der erste Besuch in der Pflegeeinrichtung liegt hinter mir. Fast war ich Corona dankbar, dass ich diese Reise so lange hinauszögern konnte. Aber nun war ich doch da zusammen mit unserer kleinen Tochter.

Um es gleich zu sagen: Ihm geht es dort gut. Er wird wirklich gut gepflegt, hat sogar etwas zugenommen. Nach wie vor isst er gern, vor allem Süßes. Die Pflege-WG hat helle, saubere Zimmer, eine große Wohnküche mit Terrasse mit Blick auf Felder und Bäume. Gleich nebenan ist die Tagespflege, wo er drei Tage die Woche „gerne hingeht“, wie seine Pflegerin berichtet. Ich höre und staune – wo ist sein Widerstand gegen alles, was mit Pflege und Heim zu tun hat, geblieben? In der Tagespflege sitzen die „Gäste“ an einem langen Holztisch, der geschmückt ist wie für einen Kindergeburtstag: bunte Servietten, Wimpelketten und farbenfrohe Becher mit Strohhalmen. Und ganz wie bei einem Kindergeburtstag an einem heißem Tag bekommen die „Gäste“ Wasserbomben in die Hand. Unter großem Hallo werden die Bomben in Richtung eines roten Eimers auf der Terrasse geworfen, wobei natürlich eine Menge schiefgeht, was großes Kichern und Johlen auslöst. Mein Ex-Mann kichert fröhlich mit. Und plötzlich kann ich mir vorstellen, dass er gerne hierher kommt. Was ich mir aber immer schwerer vorstellen kann, ist, dass dieser stumme Mann, der sich für Süßes und verpatzte Wasserbombenwürfe interessiert, der Vater meiner beiden Kinder ist. Ein Vater, der genau wie ich, Sorgerecht für unsere Jüngste hat, die noch lange nicht volljährig ist. Und die Verpflichtung, seine ältere Tochter zu unterstützen, die bald ein Studium beginnt. Ein mehr als schräges Gefühl.

Die Pflegerinnen sind ganz vernarrt in meinen Ex-Mann. Kein Wunder – er ist der einzige Bewohner, der deutlich unter 80 ist. Zudem ist er umgänglich, hilfsbereit, körperlich noch sehr fit und meckert nie (kann er ja auch gar nicht mehr). Ich muss lächeln: Auch jetzt noch – in Windeln und fast ohne Sprache – hat er Schlag bei Frauen. Genau wie früher.

Und dann sind da in seinem Zimmer die Fotobücher und Kameras im Regal und bündelweise Akkreditierungen von Filmfestivals, Bundespressekonferenz und diversen Unternehmen. Das macht neugierig. Die Pflegerinnen stellen Fragen nach seinem früheren Leben. War er wirklich Fotograf? Und wo? Wie war er als Mann, als Mensch? Was mochte er, wofür hat er sich interessiert? Es stellt sich heraus, dass sie bisher nicht einmal wussten, dass er zwei Töchter hat. Seine Betreuerin hat so gut wie keine persönlichen Informationen über ihn weitergegeben. Er selbst kann ja nichts erzählen.

Wir machen mit ihm einen längeren Ausflug in seine Heimatstadt, in der er bis vor einiger Zeit noch lebte. Dafür müssen wir ihn bei der Pflegerin abmelden und angeben, wann wir ihn zurückbringen. Auch das eine neue Erfahrung. Er hat während des langen Corona-Lockdowns motorisch stark abgebaut, stelle ich fest. An Fahrradfahren ist nicht mehr zu denken. Auf unebenem Untergrund muss ich höllisch aufpassen, dass er nicht stürzt. Essen mit Messer und Gabel geht kaum noch, merken wir beim Besuch seines Lieblingsrestaurants. Ich habe – ohne nachzudenken – wie immer sein Leibgericht bestellt: gebratenen Ostseehering. Leider viel zu kompliziert zu essen! Ich muss ihm die Filets auslösen. Doch selbst dann überfordert ihn das Gericht. „Nehmen Sie doch nächstes Mal einen Seniorenteller für ihren Mann“, raunt mir die Kellnerin zu als sie seinen halb vollen Teller abräumt. Seniorenteller? Ich stelle fest, dass ich den Vater meiner Kinder noch immer nicht so sehen kann: so hilfebedürftig, so krank. Andere sehen es auf den ersten Blick.

Wieder zu Hause in Berlin gehe ich einen längst überfälligen Schritt. Beim Familiengericht stelle ich einen Antrag, damit sein Sorgerecht für die Kleine ruhend gestellt wird. Das ist das Mittel der Wahl, wenn ein Elternteil im Ausland, im Gefängnis oder eben derart krank ist wie er. Viel zu lange habe ich das hinausgezögert. Ich hatte das Gefühl, ich würde ihm mit dem Sorgerechtsentzug etwas wegnehmen. Doch inzwischen weiß ich: er ist längst darüber hinaus, dass ihn irgendwelche Rechtsnormen auf dem Papier berühren könnten. Würde man ihm mitteilen, dass er kein Sorgerecht mehr über seine geliebte kleine Tochter ausüben kann, würde er es wohl kaum verstehen und trotzdem über die Wasserbomben seiner Mitbewohner kichern. Irgendwie tröstlich.

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