Der große Freunde-Schwund

Jetzt, wo sie am meisten gebraucht werden, machen sie sich dünne. Freunde und FTD scheinen nicht kompatibel zu sein. Ich kann nicht mal böse sein. Im Gegenteil, ich verstehe jeden, den diese Krankheit überfordert. Mir braucht keiner zu erklären, wie verstörend es ist, den Abend mit einer Person zu verbringen, die so gut wie nichts sagt. Und in deren Gesicht sich wenig bis gar keine Gefühlsregung zeigt. Ich verbringe fast alle meine Abende mit so seiner Person. Und ich finde es immer noch verstörend. So verstörend, dass ich es selten ohne Alkohol schaffe.

Wir werden schon lange nicht mehr eingeladen. Und Besuch verirrt sich auch äußerst selten in unser Wohnzimmer. Früher kamen Freunde und Bekannte gerne in unseren Garten. Jeder Sommer war voller Grillfeste. Befreundete Eltern kamen mit ihren Kindern in unser grünes Paradies mitten in der Stadt. Kinder planschten im Pool, die Großen zischten ein Bier und halfen bei der Brombeerernte. Aber jetzt sitzen wir meist allein unter dem Apfelbaum. Ihn stört das nicht. Er braucht keinen Besuch, meint er. Mag sein. Aber ich bin ja auch noch da. Und ich fühle mich einsam.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Krankheit unseren Freundeskreis eindampft. Vor 16 Jahren habe ich das schon einmal erlebt. Damals kam unser erstes Kind zu Welt. In der Entbindungsklinik gab sich der Besuch die Klinke in die Hand. Jeder wollte das Baby sehen. Die vielen Leute wurden mit schon fast zu viel. Am dritten Lebenstag, wir wollten gerade nach Hause, wurde mein Baby plötzlich schwer krank. Mit Blaulicht ging es in die Kinderklinik – Lebensgefahr! Den ganzen ersten Lebensmonat verbrachte ich mit meinem Neugeborenen in der Klinik, erst auf der Intensivstation, später auf der Kinderstation. Und immer in Angst. Mein Baby hatte dutzende epileptische Anfälle am Tag. Die Ärzte fanden nie heraus, warum, hatten aber immer wieder neue Vermutungen, eine schlimmer als die andere. Von Hirntumor, über Missbildung und Chromosomenstörung bis Blutvergiftung war alles dabei.

Ich verbrachte mein Wochenbett auf einem Stuhl sitzend zwischen Brutkästen und piependen Monitoren. Manchmal auch im Stillzimmer, in dem aber niemand stillte, sondern erschöpfte Mütter mit sorgenvollen Gesichtern an Milchpumpen hingen. Mein Kind war das einzige reif geborene Baby auf der Neonatologie. Es fühlte sich absurd an, meinen Vier-Kilo-Wonneproppen zwischen all den zerbrechlichen Frühchen zu sehen. „Unser Bröckchen“ nannten die Schwestern mein großes Kleines. Einmal wollte mich eine Kinderschwester trösten. „Manche von diesen Kindern können später sogar zur Schule gehen“, sagte sie in aufmunterndem Ton zu mir. Dieser Satz löste einen gewaltigen Weinkrampf aus, der mehrere Stunden anhielt.

Dann kamen wir auf die normale Kinderstation. Dort gab es keine Ablenkung von dem Drama. Kein Fernseher, kein Telefon, kein Radio. Das Handy durfte man wegen der Monitore, die an meinem Baby hingen, nicht im Zimmer benutzen. Ich habe mich noch nie so isoliert gefühlt. Die Klinik lag gleich neben einem großen Park. Aber ich durfte das Klinikgelände nur ohne Baby verlassen. Dann wäre es allein im Zimmer gewesen. Also kurvte ich stundenlang mit dem hässlichen Stations-Kinderwagen um den Hubschrauberlandeplatz der Klinik. Mein Baby war wegen der vielen Medikamente sediert und schlief fast immer. Ich habe in diesen Wochen sämtliche Henning-Mankell-Krimis gelesen. Seitdem kann ich Kommissar Wallander nicht mehr leiden.

Ich hätte nichts so sehr gebraucht wie Besuche. Doch so viele Leute in der Entbindungsklinik aufgekreuzt waren – jetzt kam niemand mehr. Niemand traute sich an unser Unglück heran. Es war wie eine unsichtbare Mauer, die uns fest umschloss. Nur zwei Freunde gab es, die sich nicht abschrecken ließen von der medizinischen Katastrophe und einer möglichen Behinderung. Zwei Besuche, das hieß zwei Nachmittage in diesen grauenhaften vier Wochen, in denen ein Stück Normalität, Alltag zu mir in die Klinik kam. Es gab noch eine Welt da draußen. Das hatte ich schon fast vergessen.

Das schwerkranke Neugeborene von damals ist heute ein völlig gesunder Teenager, klug und ausgesprochen hübsch. Die schlimmen Vermutungen der Ärzte haben sich nicht bewahrheitet. Und die beiden Freunde sind auch immer noch da. Sie lassen sich auch diesmal nicht abschrecken von dem Unglück, das die FTD über uns gebracht hat. Dafür bin ich unendlich dankbar.

3 Gedanken zu “Der große Freunde-Schwund

  1. der Anfang des Berichtes , ist als ob ich Ihn selbst geschrieben hätte, ich glaube es geht fast allen Betroffenen so leider, was ist mit dem Alkohol? auch mein Problem,
    Manfred

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  2. Always the faithful/dedicated remain present. I too, am aware of the people who no longer come and fill this house. I miss that familiar part of my life, but more often now, one on one or silence is my friend

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  3. Meine Erfahrungen mit meinem Kind sind absolut identisch. Bei meiner Tochter ließ sich niemand blicken, bis auf den Papa und die Großeltern. Das wars. Dutzende epileptische Anfälle, nicht einmal eine SMS war sie den „Freunden“ wert.
    Man verliere viele Freunde, das ist richtig, aber niemanden Wichtiges!

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