Erkennen

Vor diesem Tag habe ich mich immer gefürchtet. Dem Tag, an dem er uns nicht mehr erkennt. Wir waren einige Monate nicht mehr bei ihm, wollten das Abflauen der Omikron-Welle abwarten, bevor wir ihn in der Pflegeeinrichtung auf der schönen Insel besuchen.

Sein leeres Gesicht, in dem absolut nichts ausgelöst wird, als wir – unsere jüngste Tochter und ich – sein Zimmer betreten. Da ist kein Erkennen, keine Erstaunen, keine Freunde, keine Aufregung, einfach nichts. Unsere Anwesenheit scheint ihn zu irritieren. Sofort wendet er sich wieder dem laufenden Fernseher zu. Eine Krankenhausserie, wie passend.

Ich versuche ihn in den Arm zu nehmen. Keine Reaktion. Er schaut zum Bildschirm. Meine Tochter redet auf ihn ein, schmeichelt, hüpft vor ihm herum, zeigt ihm das Fotobuch mit Bildern unserer Familie, das wir ihm zu Weihnachten geschickt haben. Nach etwa 20 Minuten bewegt sich etwas in seinem Gesicht. „Papa hat uns erkannt!“, ruft meine Tochter aus. Ab da scheint das Eis gebrochen. Wir haben selbst gebackenen Osterzopf und Schokolade mitgebracht. Er beginnt alles ohne Unterbrechung in sich hinein zu futtern.

Ich schaue mich im Zimmer um. Statt seinem eigenen Bett steht da nun ein Pflegebett, in der Ecke ein Rollstuhl. Überall, wo er sich setzen oder hinlegen kann, sind Inkontinenz-Unterlagen ausgebreitet. Das Zimmer sieht viel jetzt mehr nach Pflege aus als noch vor ein paar Monaten. „Ja, er baut sehr ab“, bestätigt der Pfleger, der gerade in der WG Dienst hat.

Am nächsten Tag holen wir ihn für einen Ausflug ans Meer ab. Damit nichts schief geht, hat ihm der Pfleger zwei Windelhosen übereinander angezogen. Inzwischen ist er vollständig inkontinent. Er kann ohne Probleme laufen, aber aber nur sehr langsam. Am Ende unseres Ausflugs weigert er sich mit zum Bahnhof zu kommen. Er will nicht weg und bleibt einfach auf einer Bank mit Aussicht auf die Ostsee sitzen. Körperlich haben wir keine Chance ihm zu zwingen. Wir reden sanft auf ihn ein, lange, die Uhr im Blick (wir müssen den Zug erreichen). Schließlich lässt er sich überzeugen mitzukommen.

Als wir am nächsten Tag noch einmal zum Besuch kommen, ist er in der Tagespflege. Der Pfleger hat vergessen, ihn dort abzumelden. Er wird geholt, gibt uns aber nach kurzer Zeit klar zu verstehen, dass er zurück in die Tagespflege möchte. Wir sind ihm zu viel. Aber immerhin hat er uns doch noch erkannt.

3 Gedanken zu “Erkennen

  1. Das Vergessen geschieht einfach und man kann es nicht aufhalten noch ändern. Mein Mann hat mich am Ende sicherlich nicht mehr als seine Frau wahrgenommen, aber er hat mich am Geruch, an der Stimmmelodie, am liebevollen Streicheln als jemand wahrgenommen, der ihm gut gesinnt war. Ich merkte, wenn er Kopfweh hatte durch Beobachtung (er hatte dann so ein verkrampftes Gesicht, steifer Unterkiefer, er konnte ja schon lange nicht mehr sprechen und das Pflegepersonal davon informieren) und bekam dann sofort ein Kopfwehmittel in Brauseform – und ich denke bis heute, dass er wusste, dass ich für ihn sorgte.

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