Im Traum

Hohes Fieber macht seltsame Träume. Alles ist so anders, aber fühlt sich sehr real an. So nah. Vergangene Nacht war ich zu Besuch bei meinem Ex-Mann im Heim. Zusammen mit unserer kleinen Tochter. Wir saßen auf der Terrasse vor der großen Wohnküche der Pflege-WG, in der er der einzige Bewohner ist, der nicht bettlägrig und nicht 80 plus ist. Mildes Frühlingswetter, auf dem Balkontisch aus abwaschbarem Plastik Filterkaffee, Papierservietten und Blechkuchen. Bunte Zuckertütchen neben einer Kunststoff-Nelke in einer kleinen Vase.

Während ich erzähle und erzähle, um wie immer sein Schweigen zu übertönen, stelle ich plötzlich fest, dass mein Ex-Mann nicht wie sonst die ganze Zeit auf den Kuchen fixiert ist. Er blickt statt auf seinen Teller auf unsere jüngste Tochter und tatsächlich auch hin und wieder mir direkt ins Gesicht. Blickkontakt – das gab es schon lange nicht mehr. Ich bin beeindruckt. Er zeigt Interesse, Hinwendung, nimmt auf, was die Kleine und ich von zu Hause erzählen. Er nickt sogar zustimmend nach manchen Sätzen. Ich stocke, blicke ihn zweifelnd an. Habe ich mich getäuscht? Waren seine Reaktionen nur Wunschdenken? Ich habe jetzt sogar den Eindruck, dass er jünger wirkt, vitaler. Zu allem Überfluss lächelt er mich jetzt auch noch liebevoll an. Verwirrt nehme ich meine Brille ab, putze die Gläser. Da kommt von ihm: „Was macht denn eigentlich unser Garten?“ Ich zucke zusammen. Er hat gesprochen. Einen ganzen Satz. Als ob es das Normalste der Welt sei, beteiligt er sich am Gespräch. Mit seiner angenehmen Stimme, die mir von unserem ersten Kennenlernen an vor 23 Jahren so gut gefallen hat. Völlig erschüttert blicke ich mich nach der Pflegerin um. Sie hat meine Verwirrung schon bemerkt und kommt auf die Terrasse: „Ja, das neue Medikament wirkt Wunder. Besonders bei jüngeren Demenz-Patienten wie Ihrem Mann. Sie können ihn schon bald wieder mit nach Hause nehmen.“ Sie schaut auf unsere Kleine. „Dann hast du deinen Papa wieder. Ist das nicht schön?“ Mir bleibt fast das Herz stehen. Nach Hause? Wir wohnen doch jetzt in einer viel kleineren Wohnung als damals. Kein Platz mehr für einen Papa. Und wie erkläre ich ihm, dass ich seit Jahren eine neue Beziehung habe? Aber kann ich meine Tochter enttäuschen? Sie ist so selig, ihren Papa wieder zu haben. Und mir gefällt er ja auch sehr, denn er ist genau so, wie er damals war: ein gut aussehender, gefühlvoller Mann mit viel Humor. Mein Mann. Was soll ich bloß tun?

Schweißgebadet wache ich auf. Es ist mitten in der Nacht, etwa vier Uhr morgens. Verdammt, es war nur ein Fiebertraum. Ich liege mit einer Corona-Infektion im Bett. Und er lebt weiter sprachlos, inkontinent und dement in der Pflege-WG auf der schönen Insel. Aber ich konnte ihn für einen Moment spüren. Ganz nah. Völlig real. Wie früher. Es gibt ihn noch. Ob er noch an uns denkt? Kann er das überhaupt noch? Ich glaube, die Trauer hört nie auf.

Ein Gedanke zu “Im Traum

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s