Normal Null

Wir haben uns daran gewöhnt. Nie hätte ich gedacht, dass ich das einmal sagen kann. Aber es ist so. Die Demenzerkrankung meines Mannes ist Alltag geworden. Sechs Jahre ist die Diagnose nun her. Die Krankheit ist mindestens zwei Jahre vorher schon unerkannt da gewesen.

Wie hat unsere Welt nach der Diagnose Kopf gestanden. Alles war anders und beängstigend. Ich konnte keinen Weg mehr sehen. Da war nur Chaos und Schmerz. Aber das Leben ist weitergegangen. Für unsere Kinder und für mich. Und selbst für meinen Mann. Er verschwand immer mehr in seiner eigenen Welt und ließ unsere Kinder und mich allein zurück. Heute sitzt er kichernd in der Tagespflege unter lauter 80-Jährigen und freut sich über Luftballons. Dass er Vater ist, hat er offenbar vergessen. Er ist jetzt selbst wieder Kind, trägt Windeln, isst am liebsten Süßigkeiten und macht genau das, was er will. Wenn er überhaupt etwas macht. Meistens sitzt er vor dem Fernseher.

Meine große Tochter hat ihren Vater seit Jahren aus ihrem Leben gestrichen. Als ob er nie da gewesen wäre. Sie lebt jetzt in einer anderen Stadt und studiert. Über Papa mag sie nie sprechen. Kontakt zu ihm will sie nicht. Die Kleine hat ihre Psychotherapie beendet und kommt inzwischen ganz gut zurecht. Die Erzieher in der Schule nennen sie „sehr reif“ und „kompetent, wenn es um den Umgang mit Gefühlen geht“. Ihren Papa erwähnt sie nun nicht mehr so häufig. Es ist für sie normal geworden, dass er nicht da ist. Dass man nicht mit ihm telefonieren kann. Dass Besuche anstrengend sind und ein echter Kontakt nicht mehr möglich. Und ich bin nun schon einige Jahre mit einem anderen Mann zusammen. Auch diese Beziehung ist schon lange Alltag geworden. Wir lieben beide den Tango Argentino und tanzen so oft es geht miteinander.

Und doch ist es noch nicht vorbei. Etwas von meinem Mann ist bei uns geblieben und wird auch immer bleiben. Im Alltag merken wir es selten. Aber jetzt, wo meine Jüngste im Ferienlager und mein Freund auch nicht da ist, ist plötzlich viel Zeit und Raum für Gedanken, die im Alltag wenig Platz haben. Sofort ist die Erinnerung wieder da.

Nein, es ist nicht vorbei. Auch wenn der Schmerz von Jahr zu Jahr schwächer wird.

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