Wieder an der Ostsee. Ich bin zum ersten Mal allein zu ihm gefahren. Nach unserem letzten Besuch hatte die Kleine gesagt, dass sie nicht mehr zu Papa will. Er hatte uns nicht erkannt, war vor uns zurückgeschreckt und hatte deutlich gezeigt, dass ihn unsere Anwesenheit verwirrt und stört. Wir waren Fremde für ihn, die plötzlich in sein Zimmer eingedrungen waren. Das war ein großer Schock für unsere Jüngste. Noch Tage später arbeitete es in ihr, immer wieder brach sie in Tränen aus.
Und nun bin ich allein auf die schöne Insel gefahren. Wird er mich wieder nicht erkennen? Wird er mich überhaupt in sein Zimmer lassen? Fragen kann ich ihn nicht vorher, er kann ja schon seit zwei Jahren nicht mehr sprechen. Was will ich überhaupt bei ihm? Wäre es besser, nicht mehr hinzufahren? Unsere Besuche haben ihn immer sehr erschöpft. Und uns erst.
Diese Fragen haben mich wochenlang beschäftigt. Und doch bin ich wieder in den Zug an die Küste gestiegen. Im Heim erfahre ich, dass er nicht da ist, sondern in der Tagespflege. Dabei hatte ich extra vorab angefragt, wann sein freier Tag ist. „Hat sich kurzfristig geändert“, erklärt die Pflegerin. Na toll. Beim letzten Mal war er sehr unwillig, weil er für den Besuch aus der Tagespflege geholt werden musste. Das sei jetzt ohnehin nicht mehr möglich, da er in einer anderen Einrichtung weiter weg betreut werde, informiert mich die Pflegekraft. Immerhin darf ich ihn da besuchen, sie werde mich telefonisch ankündigen, versichert sie. Also laufe ich zur Tagespflege am anderen Ende der kleinen Stadt.
Es ist gerade Mittagsruhe, als ich ankomme. Die Pfleger sitzen mit einigen Patienten, die nicht ruhen müssen oder wollen, an einem langen Tisch und unterhalten sich. Ich werde in einen Nebenraum geführt, in einem Ohrensessel am Fester sitzt er. Man hat ihn mit einer braunen Wolldecke bis in Brusthöhe zugedeckt. Er bewegt die Hände unter der Decke, holt sie aber nicht hervor. Auch sonst bleibt er völlig unbeweglich, als er mich sieht. Und trotzdem weiß ich sofort: Er hat mich erkannt. Ich sehe es in seinen Augen, die mich direkt anblicken. Da ist kein Ausweichen, kein Wegsehen, nur sehr unmittelbarer Kontakt. „Weißt du, wer ich bin?“, frage ich trotzdem noch. Er nickt. Seine Hände bleiben unter der Decke. Auch sonst rührt er sich nicht. Wie ein kraftloser alter Mann sitzt er da unter seiner Decke im Sessel. Vielleicht braucht er seine ganze Kraft für diesen Blick, mit dem er mir in die Augen schaut und noch sehr viel weiter hinein. Ich werde ganz warm und froh: Die Demenz hat ihn noch nicht ganz. Er ist noch da, irgendwo da drin, in diesem Körper, den er nicht mehr beherrscht und versteht, existiert er. Er weiß noch, wer ich bin. Dann weiß er auch noch, wer er ist. Ob er in diesem Moment auch weiß, dass er Vater ist? Ich beginne von unseren Kindern zu berichten und versuche aus seinem Gesicht zu lesen, ob er versteht, was ich sage. „Das Problem habe ich auch immer“, höre ich plötzlich eine Frauenstimme ganz nah an meinem Ohr, überrascht drehe mich um. Hinter mir steht eine kleine ältere Dame und redet auf mich ein. Bevor ich die Situation deuten kann, ist schon ein Pfleger da und führt die Dame sanft, aber bestimmt weg: „Hilde komm, lass die Leute mal in Ruhe! Entschuldigen Sie bitte.“ Ach so, eine Mitpatientin, offenbar auch dement. Ich wende mich wieder ihm zu. Doch nun blickt er mich nicht mehr direkt an, sein Blick wandert unruhig durchs Zimmer, bleibt an Hildes Rücken hängen, der im Türrahmen verschwindet, dann schaut er aus dem Fenster. Ich spreche ihn wieder an, streichele sein Knie durch die Decke. Aber es kommt kein Kontakt mehr zustande. Seine Augen wandern weiter durch den Raum, bleiben nicht mehr an mir hängen, erkennen nichts. Der Nebel, der das meiste aus seinem Leben umgibt, hat auch mich wieder geschluckt. Der lichte Moment ist vorüber. Aber ich bin dankbar, dass es ihn gab. Wir sind uns wirklich begegnet.

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