Seenebel

Am Morgen liegt ein dichter Nebel vor dem Hotelfenster. Keine 50 Meter Sicht. Die Luft schmeckt feucht. Die Wärme des Vortages ist vergessen.

Als wir vom Frühstück kommen, sitzt er schon in der Lobby. Die Haare sehen noch schlimmer aus als gestern. Wild stehen sie in alle Richtungen, steif vor Fett. Wie dumm, dass das Schwimmbad geschlossen ist. Mit der Aussicht auf Schwimmen und Sauna konnte man ihn beim vorherigen Besuch noch unter die Dusche locken.

Wir gehen zum Busbahnhof. Ich möchte mit ihm und unserer kleinen Tochter einen Ausflug machen und habe einen Bus zum Königsstuhl rausgesucht. Kurz bevor der Bus in die Haltebucht biegt, schaut er sich um, geht auf das Toilettenhaus zu. Doch unmittelbar vor der Tür biegt er ab, um mitten auf den Bussteig zu pinkeln. Ich bin froh, dass wir die ersten Touristen nach der Corona-Schließung auf der schönen Insel sind. Es ist leer am Bussteig. Noch sind wir die einzigen Fahrgäste. Und der Busfahrer tut so, als hätte er nichts gesehen. Vielleicht hat er das ja auch nicht.

Langsam bin ich daran gewöhnt, angestarrt zu werden, wenn er sich merkwürdig verhält. Und vor allem da, wo er geht und steht, einfach so zu pinkeln. Ob auf dem Spielplatz, mitten auf der Straße oder eben am Bussteig. Auch schon mal im Hoteltreppenhaus. Das Risiko der Blamage ist immer dabei, wenn wir unterwegs sind. Anfangs habe ich mich gefragt: Kann ich das den anderen zumuten? Sein Verhalten, das für andere Menschen unschön anzusehen sein kann? Ich habe mich entschieden: ja, das ist zumutbar. Krankheit gehört zum Leben dazu. Diese Krankheit leider auch.

Während der Linienbus die von Buchenwald bewachsenen Berge hinter der kleinen Stadt hochfährt, sehe ich uns in dem nahezu leeren Bus sitzen: Ein kleines plapperndes Mädchen, dass sich an einen ungepflegten, stummen, irgendwie abwesend wirkenden Mann mit wirren Haaren schmiegt. Und eine Frau, die mit den beiden ist. Denn das bin ich: mit ihnen. Ich bin da, weil die beiden sich treffen wollen. Weil sie Vater und Tochter sind. Weil das Band zwischen ihnen weiterbesteht, trotz FTD. Trotz voranschreitender Inkontinenz. Trotz inzwischen völliger Sprachlosigkeit. Das ist schön zu sehen und gleichzeitig auch schmerzhaft.

Als wir oben am Königsstuhl aus dem Bus steigen (ohne dass im Bus etwas schiefgegangen ist – schon das ein kleiner Höhepunkt), ist kein Nebel mehr zu sehen, nur noch strahlender Sonnenschein und ein unfassbar blauer Himmel. Aber der Seenebel ist doch noch da, schwer und weiß liegt er auf der Ostsee, weit unter uns. Wir stehen drüber.

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Ein Gedanke zu “Seenebel

  1. Liebe Aphasia,
    das ist ein wundervoller Blog und ich bin froh, ihn entdeckt zu haben! Ich habe alles gestern abend in einem Rutsch gelesen. Ich kann Dir so nachempfinden und verstehen, was Dich treibt und bewegt! Meine Situation ist ganz anders und doch so ähnlich… Man ist so allein mit seinen Problemen. Und mich ängstigt, was mit meinen Söhnen in dieser Zeit passiert. Ob ich alles zusammenhalten kann, oder ob sie mir entgleiten – so wie mir mein Mann entgleitet. Das ist mit die brutalste Krankheit, die jemand kriegen kann.
    Geh deinen Weg weiter so ! Das ist richtig und gut !!!
    Liebe Grüße
    napolitana

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