Papa Hirsch

Die kleine Tochter hatte ihre erste Stunde bei der Kinderpsychologin. Durch Zufall ist vorzeitig ein Therapieplatz freigeworden. Die Psychologin hat ihn sofort meiner Kleinen angeboten – welch ein Glück.

Nach einem kurzen Gespräch zu dritt – die Kleine, die Psychologin und ich – schickt mich die Psychologin ins Nebenzimmer. Jetzt will sie allein mit der Kleinen arbeiten. Nach einer halben Stunde ruft sie mich ins Zimmer, um mir zu zeigen, was die beiden gemacht haben. Meine Tochter hat ein Bild gemalt. Sie sollte ihre Familie als Tiere zeichnen.

Das Bild wird beherrscht von einem riesigen Hirsch mit einem mächtigen Geweih. Er ist gewaltig, aber nur als Umriss vorhanden. Er ist sozusagen leer. Das soll ihr Papa sein. Neben dem Hirsch hockt ein winziges braunes Tierchen, das kaum zu erkennen ist. Es ist ein Biber, erklärt mir meine Kleine und soll sie selbst darstellen. Warum ein Biber?, frage ich. Der Biber staut das Wasser für einen goldenen Delfin. Dieser ist neben dem Biber zu sehen und nur unwesentlich größer als der Biber. Der goldene Delfin soll ich sein, ihre Mutter. Was schön ist, denn Delfine sind die Lieblingstiere meiner Kleinen. Über Biber und Delfin, etwas abseits, fliegt ein kleiner, hübscher Marienkäfer davon. Das ist meine große Tochter.

Ich bin sprachlos beim Betrachten des Bildes. Nie hätte ich gedacht, dass der kranke Vater einen so gewaltigen Raum im Denken und Fühlen meiner kleinen Tochter einnimmt. Papa Hirsch beherrscht die Szene komplett. Wie ein riesiger Schatten steht er neben und über uns. Es wird sehr deutlich: Die anderen Tiere sind völlig machtlos angesichts seiner Präsenz. Der kleine Biber muss sogar dafür sorgen, dass der Delfin überhaupt anwesend sein kann, indem er das Wasser für ihn aufstaut. Und meine Große ist auf dem Abflug, schwebt über der Familienszene. Nahezu unverbunden mit uns.

Ich bin so berührt, dass ich nicht auf den Gedanken komme, das Bild zu fotografieren. Aber es hat sich in meinen Kopf und in mein Herz gebrannt. Papa Hirsch, der Abwesende, der Stumme, der Kranke, der je abwesender er ist, umso stärker unser Leben beherrscht.

 

 

6 Gedanken zu “Papa Hirsch

  1. Liebe Aphasia,
    das erste, das mir beim Lesen einfiel, war :
    „Expecto Patronum“
    Es tut mir leid, es mag albern klingen, aber ich lese unserer Kleinen gerade den ersten Band Harry Potter vor und der allbeschützende mächtige Patronuszauber erscheint bei
    Harry, wie ehemals bei seinem toten Vater James Potter, in der Lichtgestalt eines
    großen Hirsches. Natürlich nicht zufällig.
    Der Hirsch taucht zeitgeschichtlich immer wieder und vor Allem als Schutzfigur auf.
    In der Überlieferung zeigt sich Gott dem später heilig gesprochenen Hubertus
    als großer Hirsch. Fortan wird aus dem ehemals tierquälenden Spaßjäger ein leidenschaftlicher
    Tierschützer und nach Jahrzehnten sogar ein Naturschutz predigender Bischof.
    In „Bambi“ ( ein Hirsch-Kalb und nicht etwa ein Reh-Kiz !!) spielt der mächtige Hirsch-Vater
    im Alltag zwar keine Rolle. Bambi wirkt verlassen, als die Mutter stirbt. Aber es wird
    klar, auch wenn der Hirsch-Vater nicht sichtbar ist, ist er doch immer da und
    rettet seinem Sohn drei Mal das Leben.
    Das Alles weiß Deine Tochter natürlich nicht und der Psychologe hat sicherlich das Bild richtig
    zu analysieren gewusst. Es steht mir nicht zu, etwas anderes zu interpretieren.
    Vielleicht ist es ja nicht NUR die Abwesenheit, die Krankheit (der Albtraum), was Deine Tochter gedanklich beschäftigt.
    Vielleicht ist es auch der große Wunsch nach dem „Patron“ , der Euch alle beschützt
    und die, unter dem kindlichen Vergessen, verborgene Erinnerung,
    dass ihr Papa dies einst gewesen ist.
    Vielleicht ist der Hirsch nicht nur groß, weil der Papa abwesend, krank und doch beherrschend ist.
    Er ist vielleicht auch deshalb so groß, weil er ihr so wichtig ist und sie sich seinen Schutz ersehnt.
    Ich wünsche Dir ganz viel Kraft, Deinem kleinen Bieber beizustehen….und Dir selbst.
    Delfine tanzen auch gerne.
    Wir hatten gestern das Diagnosegespräch. Als ich das Diagramm der Sprach-Testung sah, bin ich in Tränen ausgebrochen. Von 25 Testpunkten waren 22 im „roten“ Bereich.
    Das es so schlimm ist, hatte ich höchstens vermutet, aber als Diagramm dargestellt hat es uns umgehauen. Das „Monster“ hat bei uns leider noch keinen endgültigen Namen. PPA steht im Raum.
    Das es eine FTD ist, ist aber unbestritten. Zwei Untersuchungen stehen noch aus.
    Genetik und Verhaltens-Test. Mein Mann reagierte seltsam emotionslos wärend ich weinte.
    Er möchte, „das ich nicht immer gleich so negativ werde…“

    Ganz liebe Grüße
    Tanja

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    • Liebe Tanja, eure Diagnose tut mir furchtbar leid. PPA ist nur eine andere Bezeichnung für die sprachlichen Varianten der FTD. Steht bei meinem Ex-Mann auch immer mit auf den Arztbriefen.
      Deine Gedanken zum Hirsch finde ich sehr tröstlich. Und es stimmt: Der Vater meiner Kinder war ein wunderbarer Papa. Einen besseren hätte ich mir für die beiden gar nicht wünschen können. Er hätte und hat alles für seine Mädchen getan.
      Fühl die umarmt – liebe Grüße

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  2. Hallo!
    Ich wollte mal schreiben, dass es mir richtig gut tut,diesen Blog zu lesen. Nicht allein mit meiner eigenen Trauer um meinen Vater zu sein, der auch FTD hat.
    Ich bin inzwischen erwachsen und stehe auf eigenen Beinen und es bringt mich trotzdem ins Schwanken. Jeder Besuch, jedes Mal wenn bei ihm nichts ankommt und er nie richtig da ist.
    Inzwischen hilft es mir zu wissen: er kann mir nicht mehr geben, was ich brauche. Das ist besser als der Gedanke der letzten Jahre, dass ich ihm egal bin und er sich nicht auf mich einlassen will und mich eiskalt emotional verhungern lässt.
    Aber eine Sache, weil mir das Gefühl deiner Tochter so bekannt vorkommt: als ich klein war, gab es so was bei uns auch. Als Kind ist nichts, wirklich gar nichts so bedrohlich und verunsichernd wie etwas, das da ist, wo man ganz deutlich merkt, dass was nicht stimmt, für das aber noch nicht mal die Erwachsenen Worte finden. Das ist als ob da dauernd ein Abgrund ist, man hat verbundene Augen, aber niemand hilft einem da entlang. Ich hatte dauernd Angst abzustürzen.
    Ich wette, deine Tochter weiß, dass was nicht stimmt, mit dem Papa. Und sie merkt auch, dass dich das belastet. Aber ich weiß, dass sie am meisten belastet, dass sie nicht weiß was es ist. Sie weiß nur, es ist so schlimm, dass ihr niemand helfen kann, das einzuordnen. Und vor allem fühlt sie sich mit ihren Gefühlen ganz allein, das macht es noch schlimmer.
    Aus meiner Erfahrung reicht es völlig, wenn sie ein bisschen was weiß: Papa hat eine Krankheit. Deshalb kann er nicht mehr sprechen. Wie viel er versteht, kann deshalb niemand wissen. Und dass Mama deshalb sehr traurig bist. Du könntest sie auch fragen, was sie denn vermutet, was mit Papa los ist. Alle Details der Krankheit zu wissen ist für sie höchst wahrscheinlich nicht wichtig bzw war es für mich nicht. Aber die Möglichkeit nachzufragen, weil man weiß, in welche Richtung man fragen kann.
    Aber Worte zu haben hilft unheimlich!!! So wie dir dieser Blog hilft. Sprachlosigkeit ist Ohnmacht!
    Bitte überlege es dir. Denn damit hilfst du mehr,als du dir vorstellen kannst.
    Ich drücke ganz fest die Daumen und versuche die Zeit mit dem Mann, der mal mein Papa war, noch so friedlich wie möglich zu gestalten. Für uns alle.
    Esther

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Esther, es freut mich sehr, dass mein Blog dir hilft. Übrigens weiß meine Tochter, dass ihr Papa krank ist. Sogar, dass die Krankheit im Kopf ist und er deswegen seine Gefühle nicht mehr so gut zeigen kann. Liebe Grüße

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  3. Dieser Text hat mich auch mal wieder besonders berührt. Danke, dass Du darüber schreibst. Das Bild, diese unglaubliche Empathie und völlig intuitive Erkennen der Situation, das sie damit zum Ausdruck bringen kann. Dass sie als kleiner Biber das Wasser staut für Dich, den schönen goldenen Delfin, wirkt im ersten Moment zu viel des Drucks und der Aufgabe – aber zu was so ein kleiner Biber fähig ist!! Und: Der Biber und der Delfin sind etwa gleich groß. Auch das finde ich bezeichnend – sie scheint Dir ebenbürtig zu sein, auch wenn Du golden und schön bist. Nimm ihn fest in den Arm, den kleinen Biber. Und erzähl ihm von der Liebe, die der Hirsch immer in sich trägt – auch, wenn er es nicht mehr zeigen kann.

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