Was kümmert es dich, wenn ich um dich weine

Winterferien an der Ostsee. Meine Kleine freut sich auf ihren Papa. Ich fahre mit gemischten Gefühlen an die Küste. Wie wird sein Zustand sein? Am Telefon ist schon länger nichts mehr zu erfahren. Außer „Tschüss“ und „Nix“ kann er nichts mehr sagen.

Er ist überraschend pünktlich am Bahnhof. Seine Wohnung wirkt recht ordentlich, obwohl er weiterhin Hilfe durch einen Pflegedienst verweigert. Wir gehen essen. Er blickt hilflos auf die Karte. Ich lese ihm vor, was es gibt. Er tippt stumm auf eine Zeile in der Karte. Das Essen kommt. Schweigend schaufelt er das Gericht in sich hinein. Kein Danke, kein Lächeln, kein „Schmeckt gut“. Kein Blickkontakt. Meine Kleine nimmt seine Hand: „Endlich sind wir bei Papi. Ich hab Papi so lieb“. Er blickt sie kurz an. Emotionslos. Ich erzähle ihm, dass mein Vater gestorben ist. Keine erkennbare Reaktion. Ich erzähle, dass unsere große Tochter für das Abitur zugelassen wurde. Nicht die kleinste Reaktion. Nicht mal ein Blick. Auf ihren mittleren Schulabschluss vor eineinhalb Jahren hatte er noch mit Freunde reagieren können. Vorbei.

Steiniger Ostseestrand

Ich hatte mir vorher lange überlegt, wie ich meiner Kleinen schonend beibringe, dass sie diesmal nicht bei ihrem Papa übernachten kann, sondern im Hotel bei mir bleiben muss. Die beiden über Nacht allein zu lassen, ist inzwischen viel zu riskant. Aber Erklärungen sind gar nicht nötig. „Mama, lass mich nicht mit Papa allein. Ich fühle mich sonst unsicher“, sagt meine Kleine. Wie gut, dass sie ihre Gefühle so klar ausspricht. Mein Freund bringt Papa und Tochter zur Oma, die in der Nähe wohnt. Ich komme nicht mit. Seine Familie will mich ganz offensichtlich nicht sehen. Ich hatte seine Schwester, die seine rechtliche Betreuerin ist, um ein Treffen gebeten, wenn ich schon mal an der Küste bin. Doch meine Mails sind wieder unbeantwortet geblieben. Dabei hätte ich einiges zu besprechen. Ich möchte von ihr informiert werden, wenn es ihm schlechter geht, damit ich unsere Kinder darauf vorbereiten kann.

„Du musst ihn endlich loslassen“, sagt mein Freund später als wir allein sind. Mir wird klar: das kann ich nicht, loslassen. Noch nicht. Ich trauere immer noch um ihn, meinen Ex-Mann, der selbst nicht mehr trauern kann. Ich trauere für ihn mit.

Einer meiner Lieblingstangos fällt mir plötzlich ein: Que te importa que te llore – Was kümmert es dich, wenn ich um dich weine?

 

 

8 Gedanken zu “Was kümmert es dich, wenn ich um dich weine

  1. Liebe Aphasia,
    warum solltest Du ihn „loslassen“? Das ist hoffentlich nicht Ausdruck des sicherlich verständlichen Wunsches Deines Freundes, Dir helfen zu wollen und Dich für sich alleine zu haben. Ihn loslassen würde bedeuten, aufhören zu lieben. Das geht aber so nicht.
    Wenn Dein Mann im Koma läge, würdest Du ihn loslassen? Wenn er Krebs hätte, oder einen Hirntumor, Herzfehler, Lungenfibrose oder Nierenversagen hätte?
    Dein Mann ist krank, nicht tot. Und ich bin überzeugt……er fühlt!
    Er war pünktlich, ist gepflegt und die Wohnung ordentlich ……es war ihm wichtig genug, die Impulskontrolle zu behalten und sich vorzubereiten.
    Dein Mann fühlt , kann es Euch nur nicht mehr zeigen.
    Fühl ruhig, was Du fühlst und setze Dich nicht noch mehr unter Druck, indem Du versuchst zu fühlen, was andere meinen, was die besseren Gefühle sind.
    Eure Kinder können ja auch nicht „loslassen“. Das wär auch schlimm.
    Liebe Aphasia, ich glaube mich zu erinnern, dass Dein Mann der Trennung relativ bereitwillig zustimmte? Vielleicht war es ihm nicht egal, sondern er tat es aus Liebe für Euch?
    Mein Mann hat mir neulich etwas Ähnliches angeboten und ich war geschockt während er ziemlich sachlich argumentierte :“ dann habt Ihr Euer Leben und ich bin so, wie ich eben bin mit mir alleine.“
    Ich wünsche Dir viel Kraft beim Festhalten der schönen Erinnerungen an Deinen lieben kranken Mann. Du trauerst hier und er in Aphasialand.
    Und wenn Du weinst, dann liebst Du……. und das fühlt er sicher.
    Ich umarme Dich voller Mitgefühl
    Tanja

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    • Liebe Tanja, was du schreibst, erinnert mich sehr daran, wie ich selbst am Anfang der Krankheit dachte. Die Liebe hat es schwer bei dieser Krankheit, weil sich die Persönlichkeit so extrem verändert. Was lässt die Frontotemporale Demenz von der Liebe am Ende noch übrig? Nicht sehr viel, fürchte ich. Liebe Grüße

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      • Ich hatte gehofft Recht zu haben und sehe ein, dass Du es bist, die es richtig sieht.
        Danke für Deine Ehrlichkeit. Es wird auch auf uns zukommen.
        Wenigstens weiß ich durch Dich, diese Seite hier und die Menschen, die Kommentare hinterlassen, ich bin nicht alleine.

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  2. Hallo.
    Durch zufall bin ich auf diesen Blog gestoßen.

    Auch wir haben in unserem sehr nahestehendem Familienkreis die Diagnose FTD bekommen…
    Erst nach 1 jahr Psychiatrie und vorerst anderer Diagnose…

    Bei uns herrscht komplette Sprachlosigkeit, vorallem wie mit den Angehörigen umgehen, kann man mehr tun als anzubieten immer da zu sein wenn man gebraucht wird?
    Ich denke immer eine Frau nimmt wahrscheinlich Hilfe eher an, aber hier ist es der Mann und die Tochter die Ihre Frau und Mutter „verloren“ haben…

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    • Hallo Ramona, die Sprachlosigkeit kenne ich auch. Viele ziehen sich zurück. Es ist ganz wichtig, den Angehörigen immer wieder zu zeigen: ich bin für euch da. Auch wenn da erst mal keine Hilfe abgefordert wird. Es dauert, bis man Hilfe annehmen kann. Das fällt mir auch immer noch schwer. Vielleicht kannst du mal etwas mit der Tochter unternehmen? Meinen Töchtern hilft das sehr, wenn sie noch andere Menschen haben, mit denen sie schöne Dinge erleben und mal unbeschwert sein können. Liebe Grüße

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      • Vielen Dank für deine schnelle Antwort.

        Ja, mit der Tochter haben wir in dem letzten schwierigem Jahr auch schon viel unternommen. Sie ist 14, mitten in der Pubertät und Gott sei Dank hat sie eine ziemlich feste Bindung zum Papa aber ausgerechnet in der Zeit wo der Körper sowieso „verrückt“ spielt bräuchte man halt die Mama noch mehr…

        Wie gingen deine Töchter mit der Diagnose um?

        Meine Cousine war das ganze letzte Jahr eigentlich immer so drauf, als wäre ja gar nix… Fast schon Erleichterung, sie musste wohl in dem jahr zuvor wo alles schleichend begann ziemlich viel einstecken.
        Man macht sich halt sorgen dass bald alles über ihnen zusammen bricht.
        Frau und Mutter weg und dann die finanziellen Zukunftssorgen, wird man das Eigenheim halten können usw…

        Ich selbst hab meine Tante zuletzt Anfang 2018 gesehen, in der Psychiatrie durften wir sie nicht besuchen.
        Ich hoffe ich „überstehe“ den – hoffentlich bald- Besuch im Pflegeheim. Sie versteht ja nicht weshalb es einen mit nimmt sie so zu sehen…

        Sorry für den langen und wahrscheinlich wirren Text, aber seitdem wir wissen dass unsere Hoffnung zertrampelt wurde, schwirrts nur so vor Gedanken.

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      • Meine Töchter waren 16 und 6 bei der Diagnose. Die Große will nach wie vor nichts wissen und nichts mehr mit ihrem Papa zu tun haben. Totale Verweigerung.
        Die Kleine nimmt Papa, wie er ist, leidet aber sehr darunter, dass er keine Gefühle mehr zeigen und gar nicht mehr sprechen kann. Sie vermisst ihn sehr. Beide Töchter brauchten psychologische Behandlung. Ich will nichts beschönigen, es ist gerade für die Kinder schwer, das mitzuerleben.

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  3. Danke für deine ehrlichen Worte.

    Sobald jetzt ein Heim platz gefunden wurde und ein bisschen Ruhe einkehrt – wenn es das überhaupt wird – werden wir die beiden anstupsen und ihnen psychologische Hilfe nahelegen.

    Ich wünsche euch alles Gute für den weiteren Verlauf, dieses Leid, was vorallem die Angehörigen durchstehen müssen, wünscht man seinem ärgsten Feind nicht.

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