Adios Corazón

Er ist weg. Er ist nicht nicht mehr hier bei mir. 18 Jahre Zusammenleben, 18 Jahre Liebe sind Geschichte. Er ist jetzt da, wo er immer hin wollte. An der Küste, an der See. In seiner Heimatstadt auf der schönen Insel. Ich bin hier geblieben. Bei unseren Kindern, unseren Demenz-Halbwaisen. In meinem Leben. In Berlin.

Damals vor der Krankheit wäre ich jederzeit mit ihm auf die Insel gezogen. Wäre nur Arbeit für uns dort gewesen. Es war unser gemeinsamer Traum. Auf der schönen Insel leben. Am Meer. In seiner Heimat. Jetzt, in der letzten Phase seines Lebens, lebt er unseren Traum allein.

Er war glücklich beim Abschied. Kann jemand mit Demenz im mittleren Stadium glücklich sein? Ich glaube ja. Aber was weiß ich schon. Ich hoffe es jedenfalls, dass er es ist.

Vorgestern war der Umzug. Ich ging in aller Frühe den Umzugswagen holen. Als ich an der Verleihstation ankam, merkte ich, dass mein Gesicht nass war. Ich hatte wohl geweint. Hatte ich geweint? Ja, es muss wohl so gewesen sein. Ich hatte es nicht gemerkt, denn ich war gar nicht da. Ich tat nur, was getan werden musste. Wie immer seit die FTD meine Familie heimgesucht hat. Ich füllte die Papiere aus, legte meinen Ausweis vor, den Führerschein. Aber sonst nahm ich nicht viel wahr. Es war ein schöner Morgen. Mein Freund war schon da, er sollte das Auto fahren. Er sah mein tränennasses Gesicht, nahm mich wortlos in den Arm. Blauer Himmel, ein paar Wolken, der geschäftige Lärm der erwachenden Großstadt. Ich hatte eine Tüte Schrippen in der Hand, war wohl noch beim Bäcker gewesen. Ich war da und doch nicht.

In meinen Gedanken war ich ganz woanders. Ich war an vielen Orten. Im Kreißsaal. Er hat unser neugeborenes Kind im Arm. Er lächelt über das ganze Gesicht: „Jetzt hast du mir zwei wunderschöne Töchter geschenkt.“ Das werde ich nie vergessen. Und auch in unserem kleinen Skoda auf der Autobahn war ich. Ich lege meine Hand auf seinen Oberschenkel. Und wie immer legt er sofort seine Hand auf meine. Und ohne dass wir uns ansehen oder etwas sagen, denken – nein wissen – wir beide das selbe: Du gehörst zu mir und ich zu dir. Das war jede Fahrt so. Und wir hatten viele. Ins Umland von Berlin. Zu Reportagen oder zu Ausflügen, wir waren oft unterwegs. Jedes Mal gab es diese Geste tiefer Verbundenheit, der Versicherung: Wir sind eins. Trotz allem. Nein, trotz allem, das darf ich jetzt nicht mehr sagen. Es gab ein Jetzt-geht-es-nicht-mehr-weiter-zusammen. Aber dass es das gab, wird mir erst jetzt, wo ich den Sprinter von der Verleihstation hole, erst jetzt wird mir das richtig klar. Es ist vorbei. Es ist wirklich vorbei. Ich habe meine große Liebe an die Demenz verloren. Darum laufen die Tränen, unkontrollierbar und doch unbemerkt von meinem perfekt funktionierendem Ich. Ich lege die Papiere vor, unterzeichne den Vertrag. Ich tue, was getan werden muss. Und die Tränen laufen.

Eine Stunde später ist alles verladen. Ich mache den Helfern Frühstück. Schneide mir dabei tief in den Finger, auch das fast ohne es zu spüren. Dann steigt er in den Wagen. Ich will mich verabschieden, ihn noch einmal in den Arm nehmen. Aber er schlägt die Beifahrertür zu, nicht ärgerlich, nicht schwungvoll, nur so, wie man sie zuschlagen muss. Als ob es mich gar nicht gäbe. Als ob da nicht seine Liebe von 18 Jahren, die Mutter seiner Kinder auf dem Bürgersteig stehen würde. Ich zittere, vom Donner gerührt, bin kurz vom Umfallen. Das Auto fährt aus der Parklücke, biegt nach rechts und entschwindet im Großstadtverkehr. Was fühle ich? Nichts, gar nichts. Ich bin nicht da. Sehe einen Spätsommertag an einem See von Schilf umsäumt. Sehe ihn neben mir auf der sandigen Decke, er tiefbraun neben meinem eher blassen Körper, immer war er gleich so braun. Nur ein Tag am See reichte aus. Sehe ihn neben mir mit einer Flasche Rotwein auf unserem Balkon in einer lauen Spätsommernacht, der Himmel voller Sterne. Guck mal, eine Sternschnuppe. Wir dürfen uns was wünschen. Was wünschst du dir?

Das, was von mir noch übrig ist, schleppt sich hoch in die halbleere Wohnung. Um nicht wieder zu heulen, fange ich an zu putzen. Ich putze zwei Stunden lang gegen die Verzweiflung an, brabbele die ganze Zeit irgendwas vor mich hin. Werde ich jetzt irre? Dann fahre ich zum Jugendamt. Meine Hülle betritt das Amtszimmer und gibt den Antrag auf Unterhaltsvorschuss ab, höflich und verbindlich, eine perfekt vorbereitete Antragstellerin. Die Hülle geht wieder nach draußen, strahlender Sonnenschein, steigt in die Tram. Nach drei Stationen stelle ich fest, ich bin in der falschen Linie. Ich bin aus Zeit und Ort, aus allem, was ich kenne, gefallen. Ich falle und falle und finde keinen Boden. Adios Corazón. Machs gut, mein Herz.

2 Gedanken zu “Adios Corazón

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