In der U-Bahn-Station Samariterstraße saß er. Am Aufgang zur Straße, wo sonst Penner aus Osteuropa Sternburg Export schlucken, saß er mit seinem Bandoneon. Es könnte keinen ungnädigeren Ort für einen Tangospieler geben als diesen schmutzigen, in bläuliches Kunstlicht getauchten U-Bahnhof weit ab der Touristenströme und gentrifizierten Wohnquartiere. Die Schluchzer des Bandoneons echoten durch die gekachelten Gänge bis hinunter auf den Bahnsteig.
Kaum jemand beachtete ihn. Keiner warf Münzen in den aufgeklappten Instrumentenkasten, wo ein Foto von einem Tango tanzenden Paar klebte. Immer wieder stoppte er mitten in einer Tonfolge, um Matetee aus einem Becher mit Metallstrohhalm zu trinken. Sein Gesicht war von wirren schwarz-grauen Locken umrahmt, seine Hose an die Knien ausgebeult, die Jacke speckig. Die ganze Erscheinung schien aus Zeit und Ort gefallen. Er sah aus, als hätte man ihn direkt aus den Straßen von Buenos Aires in diesen Berliner U-Bahnhof verpflanzt. Einen Straßenmusiker mit Bandoneon hatte ich bisher noch nie in meiner Stadt gesehen. Seltsam übrigens, denn das Bandoneon, das wie kein anderes Instrument zum Tango Argentino gehört, stammt aus Deutschland. Aus Krefeld genauer gesagt.
Ich musste stehen bleiben. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Tangospielers, als er merkte, dass ihm jemand zuhört. Ich wollte ihm sagen, dass mich seine Musik berührt hat. Dass der Tango einer der wenigen Lichtblicke ist in der FTD-Hölle, in der ich lebe. Aber dafür reichte weder mein Mut noch mein Spanisch. So lächelte ich ihn nur an und warf ein paar Euro in seinen Bandoneon-Kasten.
Der Tangospieler im U-Bahnhof hat meinen Tag gerettet. Ich hoffe, dass er immer weiter spielen wird. Für mich und für alle, die sich mit ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung im Tango zuhause fühlen.
Mein Mann ist heute gestorben. Ich war 2 Stunden zu spät im Heim. Dann hätte ich ihm für den letzten Weg noch etwas sagen können. Sehen durfte ich ihn und er sah so schlimm aus. Schmerzen hatte er nicht wurde mir von den Pflegern gesagt. Ich wusste es, dass es so kommt. Wenn es dann Tatsache ist, kann ich nur noch weinen. Im Heim haben sie ihm eine Blume in die Hand gelegt und eine Kerze angezündet. Ich muss jetzt sehen, wie es weitergeht.
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Herzliches Beileid. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es ist immer zu spät – oder zu früh, je nachdem, von welcher Seite man das Geschehen betrachtet. Zeit, Abläufe lassen sich nicht verlangsamen oder gar anhalten – manchmal leider !
Ihr Mann hatte aufgegeben, und damit gab es für sie keine Chance mehr zu intervenieren oder irgendwie nachhaltig zu helfen. Ihnen bleibt nur übrig zu akzeptieren und zu versuchen wieder irgendwie festen Boden unter die Füße zu bekommen. Dazu wünsche ich ihnen, auch unbekannterweise, für die Zukunft, ihre Zukunft, viel Kraft.
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Liebe IAWilke, mein allerherzlichstes Beileid. Das muss so schwer für Sie sein, ich kann das gar nicht ermessen. Wie kann man da trösten? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass Sie Menschen um sich haben, die Ihnen jetzt bestehen.
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