Streit, verzweifelt gesucht

Ich will keine Liebesschwüre und keine Komplimente – ich will Streit. Ein schönes lautes, heftiges Wortgefecht. Nie hätte ich gedacht, dass ich das mal vermissen würde. Aber es ist so. An seiner Sprachlosigkeit durch die Primär nicht flüssige Aphasie vermisse ich am meisten den Streit.

Wir leben jetzt schon etwa zwei Jahre ohne einen einzigen Streit. Was nicht heißen soll, dass es keine Meinungsverschiedenheiten bei uns gibt. Klar, gibt es die, nur können wir sie nicht austragen. Das heißt, ich kann natürlich schon. Und ich mache es auch. Das fühlt sich allerdings an, wie wenn man eine Wand anschreit. Das einzige, was zurückkommt, ist das eigene Echo.

Wenn ich laut werde, schaut mich mein Mann nur mit dem typisch ausdruckslosen Blick der FTD-Kranken an. So dass ich oft nicht mal weiß, ob er mich wirklich verstanden hat. Dieser leere Blick macht mich wahnsinnig. Und meist noch wütender. In diesen Momenten fühle ich mich so unfassbar einsam. Es kommt einfach nichts zurück. Nicht die kleinste Regung. Meine Wut prallt an seinem leeren Blick ab.

Im vergangenen Sommer, kurz vor der Diagnose, saßen wir an lauen Abenden oft auf unserem Balkon. Und ich redete mich in Rage: Warum suchst du dir keinen neuen Job? Warum kümmerst du dich um nichts? Warum überlässt du alles mir? Meine endlosen Vorwürfe bewegten nichts in seinem Gesicht und nichts in seinem Kopf. „Glotz nicht wie eine Kuh, wenn’s donnert, sondern sag endlich mal was dazu“, schnauzte ich ihn immer wieder an. Ich begann ernsthaft darüber nachzudenken, mich von diesem gleichgültigen Kerl zu trennen, dem ich offenbar nicht mal eine Antwort wert war. Nie hätte ich gedacht, dass eine Krankheit hinter seiner Sprachlosigkeit stecken könnte.

Eine Nachbarin, die unter uns wohnt, wunderte sich immer wieder, warum ich auf dem Balkon so laute Selbstgespräche führte. Aus ihrer Sicht muss das wirklich seltsam gewirkt haben. Eine wütende Frauenstimme, die Beschimpfungen am laufenden Meter ausstößt. Und nie antwortet jemand. Ein Wunder, dass sie mich nicht für verrückt gehalten und einen Notarzt alarmiert hat. Es hätte eine gewisse Ironie gehabt, wenn die vermeintliche Balkon-Irre statt dem FTD-Patienten in der Klinik gelandet wäre. Inzwischen weiß meine Nachbarin, was bei uns los ist und hat nun endlich eine Erklärung für meine merkwürdigen „Balkon-Selbstgespräche“.

Ja, Selbstgespräche in jeglicher Form sind die einzige Form von Gesprächen, die in unserer Ehe noch stattfinden. Dabei hätten wir uns durchaus noch etwas zu sagen. Schließlich war er meine große Liebe. Und ich seine. Wenn nur diese verfluchte FTD nicht wäre.

 

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