Etwa ein Jahr vor der Diagnose haben wir eine neue Leidenschaft entdeckt: Tango Argentino. Wir hatten etwas gesucht, das nur für uns als Paar sein sollte. Etwas, das nichts mit Arbeit und Kindern zu tun hatte. Und das war der Tango. Ganz nebenbei war der Tanzkurs auch noch so etwas wie eine Paartherapie. Ich musste das Folgen lernen, er das Führen – im täglichen Leben ist das bei uns eher umgekehrt. Und je mehr die Krankheit, von der wir noch gar nichts wussten, voran schritt, desto stärker geriet ich in die Rolle der „starken Frau“. Als Folge wurde das Folgen schwieriger für mich und für ihn das Führen.
Am Anfang lernten wir gut zusammen. Ochos, Moulinette, Planeo – wir waren wirklich ein passables Anfängerpaar. Doch nach den ersten Monaten bekam er zunehmend Schwierigkeiten neue Figuren zu lernen und die schon gelernten zu behalten. In der vergangenen Woche sollten wir die Barrida lernen. Die anderen Paare tanzten längst diese elegante Figur, während wir immer noch an einem ganz einfachen Seitschritt festhingen, den er nicht (mehr) zu begreifen schien. So ging das die ganze Stunde lang. Wir kamen buchstäblich keinen Schritt weiter. Zu sehen, wie die anderen, mit denen wir vor Monaten noch mühelos mithalten konnten, jetzt an uns vorbei tanzten, machte mich unglaublich wütend. Mit jedem misslungenen Versuch wuchs meine Wut und mein Hass auf diese verfluchte Krankheit. Die FTD schafft es zielsicher alles Schöne aus dem Leben zu radieren. Darin ist sie wirklich top. Und sie gibt allen Lebensbereichen eine klare Richtung: nach unten. Mit ihr wird alles immer weniger. Weniger Fähigkeiten, weniger Spaß, weniger Sprechen, weniger Geld. Weniger Lebensfreude. Nun werden unsere Mit-Tänzer bald in die Mittelstufe wechseln. Wenn sie uns dahin mitnehmen, dann aus Mitleid. Das zu wissen ist das Schlimmste.
Unser Tango wird jetzt immer mehr zu einer Demenz-Therapie. Klar, der Tanz ist bestes Hirn-Training und wird bei allen möglichen neurologischen Krankheiten empfohlen. Aber will ich diese Art Tango? Nein! Ich bin definitiv nicht bereit fürs Alzheimer Tanzcafé. Ich will nicht mit meinem Partner zur Tango-Therapie gehen, ich will tanzen, tanzen, tanzen. Mit einem Partner, der selbstbewusst und sicher führt, damit ich folgen kann. Ich will beim Tango alles vergessen: die Krankheit, die unsere Familie zerstört. Meine fünf allesamt unsicheren Jobs. Die Aussicht bald mit zwei Kindern allein da zu stehen. Die Geldprobleme, die langsam in Sichtweite kommen. Die Frage: Scheidung ja oder nein. Und auch den ganzen Rest. Nur tanzen. Und vergessen. Ist das zu viel verlangt? Ich sag es mit Leonard Cohen: Dance me to the End of Love.