„Könnten Sie bitte in die Klinik kommen, ich muss etwas mit Ihnen besprechen.“ Ein Anruf vom Arzt. Seit einer Woche war mein Mann auf der Neurologischen Abteilung zu umfassenden Tests. Warum konnte er so schlecht sprechen? Woher kamen seine Koordinationsstörungen und seine Antriebslosigkeit? Dass er als Freiberufler kaum noch Aufträge hatte, schien ihn überhaupt nicht zu beunruhigen. Dabei haben wir doch zwei Kinder. Es war klar, dass als Grund für diese Veränderungen auch bösartige Krankheiten infrage kamen. Trotzdem hoffte ich auf eine harmlose Stoffwechselstörung oder, wenn es denn sein muss, eine Depression. Irgendwas Behandelbares eben.
Bis zu diesem Anruf. Ich sehe mich in der Küche stehen. Wie in Trance lege ich den Telefonhörer auf. Es ist ein Spätsommernachmittag im September. Goldenes Licht, 24 Grad, keine Wolke am Himmel. Träge summt eine Wespe durch die offene Balkontür und bummst dann immer wieder gegen die Scheibe. Vom Sandkasten im Hof ist Kinderlachen zu hören. Ich hatte vorher im Garten gearbeitet, Knoblauch für das nächste Jahr gesteckt. Wie in Zeitlupe gehe ich ins Bad, dusche mir die Gartenerde von den Füßen und ziehe ein schwarzes Seidenkleid an. Das Kleid hat seit Jahren ungetragen im Schrank gehangen. Fast so als hätte es auf diesen Moment gewartet.
Die Klinik liegt am anderen Ende der Stadt. In der S-Bahn setze ich mir Kopfhörer und eine dunkle Sonnenbrille auf. Trotzdem sehen andere Fahrgäste meine Tränen. Eine Frau um die 30 blickt mich so mitleidig an, dass ich noch mehr weinen muss. Ich sehe aus, wie eine Frau, die auf dem Weg zu einer Beerdigung ist. Und das bin ich ja auch. Mein Leben, wie ich es kannte, ist vorbei, tot, am Ende. Tschüss, liebes Leben, war schön mit dir!
Dann sitze ich zusammen mit meinem Mann im Flur der Neurologie. Und für einen kurzen Moment schöpfe ich Hoffnung. Da wir nicht ins Arztzimmer gebeten werden, und das Gespräch mitten auf dem Flur stattfindet, ist die Diagnose vielleicht doch nicht so schlimm.
Aber das ist sie. Und wir erfahren Sie hier auf dem Flur vor der Glastür zum Raucherbalkon. Frontotemporale Lobärdegeneration, Variante Primär nicht flüssige Aphasie, schon recht fortgeschritten. Im Klartext: sein Hirn stirbt ab. Zuerst das Sprachzentrum, dann verenden auch andere Hirnteile, bis er selbst stirbt. Dagegen machen kann man nichts. Weder Behandlung noch Heilung gibt es. Noch nicht mal eine Prognose kann uns die moderne Medizin bieten. Wie lange er noch hat? Irgendwas zwischen drei und zehn Jahren, vielleicht auch länger. Oder kürzer.
Es ist so unwirklich, ich komme mir vor wie in einem Film. Und während der Neurologe mit ernster Stimme auf uns einredet und dabei tatsächlich wie ein Pastor am Grab klingt – wobei er irritierender Weise an uns vorbei durch die Glastür hinter uns oder ins Leere starrt – fällt mir plötzlich ein, in welchen Film ich mich versetzt fühle. Es ist „Halt auf freier Strecke“, ein Film von dem großartigen Regisseur Andreas Dresen über ein Ehepaar, das sich mit einer tödliche Krankheit auseinandersetzen muss. Frank (Milan Peschel) und Simone (Steffi Kühnert) erfahren, dass in Franks Kopf ein nicht behandelbarer Hirntumor wuchert. Die Kamera zeigt während des Aufklärungsgesprächs nicht den Arzt, nur die Gesichter des Ehepaars, auf denen sich der Horror dessen, was der Arzt ihnen mitteilt, widerspiegelt. Simone fängt an tonlos zu weinen, Franks Gesichtsausdruck flackert zwischen Ungläubigkeit und Verzweiflung hin und her.
So ähnlich muss das auch bei uns ausgesehen haben. Nur, dass es kein Kinofilm war sondern unser Leben. Am Ende unseres Films wird es keinen Abspann geben sondern eine Beerdigung. Ich habe mein schwarzes Kleid wieder in den Schrank gehängt. Dort bleibt es jetzt. Bis zur Beerdigung.